Flieder

Mit der flachen Hand

auf dem noch geschlossenen Aktendeckel schaute

sie hinaus weit

hinweg über das endlose lautlose diesige Land.

Dachte immer noch an diesen Albtraum-Vortrag

Kindheiten:

Danke, dass du so scheiße warst …

stünde ich sonst heute nicht hier.

Ein Moment der Nostalgie hatte sie übermannt, Scham, Verstecken, Lügen, Stress unausgesetzt. Karpatenkindheit.

Sie hatte lange geglaubt, ihr Lieblingsmensch sei die Großmutter gewesen. Hatte ihr eine Zuckermelone hinausgereicht. Auf die Schwelle.

Aber es war dieser völlig verrückte Typ, der als einziger so abgedreht war wie sie selbst.

Er hieß Flieder. Stefan Stefänchen Flieder.

Der sie überall hin begleitete, ihr begeistert folgte, was immer sie tat. Keine Minute ihre Gesellschaft missen mochte.

Sie war überzeugt, er wäre aus ihrem Leben verschwunden, als er eines Tages nicht mehr da war.

Er war immer noch da.

Beide Augenlider gesenkt

reglos im Drehstuhl verharrend konnte sie

spüren, wie sich

der Nebeldeckel über der Moorheide lichtete.

Dachte immer noch an diesen Albtraum-Vortrag

Kindheiten:

Danke, dass du so scheiße warst …

stünde ich sonst heute nicht hier.

Versenkte sich wieder in dies alte Gefühl. Das Haus in Aufruhr, die Eltern streiten, die Großeltern mischen mit. Und auch die Tante.

Irgendwie war sie auf der Haustürschwelle zu sitzen gekommen. Die Zwischentür hatten sie geschlossen.

Die Großmutter hatte ihr eine halbe Honigmelone herausgereicht, entkernt, die Kuhle mit einem Zuckerberg aufgefüllt. Und einem Löffel drin.

Sie schaute auf dieses von allen verlassene Kind.

Stefan Stefänchen Flieder war nicht mehr gekommen. Vielleicht hatte er das nicht verkraftet. Mit dem Vögelchen.

Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Unter dem lila – Fliederbusch!

Sie hatten ihr verboten, es zu retten. Das nächste Mal im Garten lag es da, das ganze Körperchen voller Maden.

Sein Nachfolger hieß Wilhelm.

Es wurde langsam Zeit, diesem in

die Augen zu schauen.

Sie stand auf, trat, nackt wie sie war, vor den großen Spiegel im Flur.

Danke, dass du so scheiße warst, Mama, Papa, Papa-Omi, Mama-Großvater. Es waren alle, bis auf Tante Eva. Und die Ziri.

Sie hatte richtig entschieden, sich grad von diesen beiden beeindrucken zu lassen.

Tante Eva war Näherin und Ärztin. Hatte ihr ein richtiges Kostüm geschenkt. Mit Schößchen. Und hatte schon Etliche gerettet in ihren ungezählten Notdiensten. Mit einem beherzten Schnitt in den Hals.

Ziri war halt Dienstmagd. Mit den nicht einmal vier Klassen. Ihr Sohn hatte einen Fluchtversuch gewagt, der nicht gut ausgegangen war. Ein langer Narbenwulst über dem Unterarm bis zu den Fingern bezeugte den Schlitz. Vom Bajonett.

„Hat mich nie intressiert“, hatte diese unverwüstliche Ziri abgewunken.

Leichthin, frei.

Sie lächelte der Frau im Spiegel zurück. Zufrieden, wie man nur sein konnte.

Sie war frei zu sein. Wie sie war.

Söldnerin und Ärztin. Die Flieder

liebte.

Streckte ihren Arm zu einem ausladenden Halbkreis, diesmal den ganzen Bogen zu überschauen. Der jetzt zurückfand zu ihr.

Ein Irrenhaus feindlicher Ethnien untereinander verheiratet. Unschuldige Eltern in einem zerrissenen Land in Zeiten staatlichen Terrors.

Nicht einer aus der Familie, der es geschafft hätte.

Bis auf dieses wehrhafte zarte Kindchen.

Aufgewachsen in den engen Koordinaten des kleinen Glücks. Mit Garten.

Auf dem Berg dahinter lag die Uni. Nach vorne hinaus die Poliklinik mit dem Lungen-Krankenhaus. Daneben errichteten sie die neue Leichenhalle.

Prächtigster weißer Flieder, Tbc-bestäubt, ragte hinüber zur Baustelle. Ihrem

Spielplatz.

Ansatz einer kurzen Text-Interpretation

Aus der flachen Hand, die niederhält, wird ein Spielplatz, das Einzige, hat man spontan den Eindruck, dieses Mädchens, das nicht hinunterdrückt, die natürlich aufstrebende Entwicklung nicht behindert – aber die junge Protagonistin hat eine gute Freundin, die ihr, bei aller Fährnis und Unbill, treu zur Seite steht bis zuletzt:

die Erzählerin.

Die Autorin präsentiert einen Text, dem es, unter der „flachen Hand“, gelingt, einen plausiblen Entwicklungsbogen aufzureißen und mit nur wenigen Strichen unter die Haut zu befördern.

Es ist die Geschichte einer gelingenden Selbstwerdung, gekonnt zusammengebraut aus unweigerlichem systemischen Erbe, unausweichlichen äußeren Umständen und der Gnade dieses jedem einzelnen Menschen eingebauten Selbstentfaltungstriebs.

Die Hauptfigur verlässt sich wertungsfrei darauf, fließt glatt mit den Wechselfällen jedweden Schicksals mit und findet sich: frei, befreit und all dessen froh.

Ein typischer Text für die Autorin, geht es doch um eine weibliche Hauptfigur, deren Lebensweg, gewollt kryptisch, anhand einzelner nur schlaglichtartig angedeuteter Stationen präsentiert wird: Ausgangspunkt ist eine spezifische Wahrnehmung auf der Objektebene (flache Hand auf geschlossenen Aktendeckel), die symbolisch für ein Anfangsereignis in der Vergangenheit steht und das am Ende des oft nur subjektal sinnvoll zu deutenden Prozesses mit einem Selbstbestimmungserfolg kontrastiert.

 

(Der Primärtext ist der erste der jährlichen Online-Publikationsreihe in Kooperation mit dem SL-Verlag Dortmund, wo ab August 2021 monatlich ein neuer Textbeitrag zu finden ist.)