Corona

Zum ersten Mal suchte sie den großen Aldi an der Ausfahrtstraße auf.

Am Eingang eine komplette professionelle Desinfektionsstation: Krankenhausspender mit langem Druckhebel, Papiertücher aus einer Metallbox, dazu ein Abfalleimer mit Schwingdeckel. Nicht wie bei ihrem kleinen Haus-Penny: eine elendig zerquetschte Sprühflasche stinkigsten Billigsprays nebst einer aufgerissenen Packung Küchenkrepp, ohne Möglichkeit, die gebrauchten Blätter irgendwo zivilisiert zu entsorgen.

Sie drückte den Hebel mit dem Ellenbogen, dann mit der Hand. Leer.

Bei diesem Aldi gab es rote Beete als Kugeln! In der Folgewoche fuhr sie wieder hin, sich eine Vorratsmenge zu kaufen.

Am Eingang war an der Desinfektionsstation ein großes Schild angebracht worden:

Sie sind verpflichtet, Hände und Einkaufswagen zu desinfizieren, Paragraf sowieso, sowieso, Verordnung zu SARS-COV-II vom xy-ten.

Sie drückte den Hebel … Nichts?

Bei ihrem Penny hätte es das niemals gegeben. Selbst, wenn es schon mal keine Tücher gab zum Abtrocknen oder der zerbeulte Sprühbehälter fehlte, lagen da kleine, zwar schon umgefallene, Pumpfläschchen, aber doch halbvoll, herum. Und es gab, seit man nur mit den großen Einkaufswagen hineinkam, selbst wenn man nur Zigaretten brauchte, immer lose Einkaufswagen, in die man gar nicht erst Geld oder Chip hineinzustecken hatte.

Sie drückte den Hebel mehrfach … Leer.

Erst jetzt entdeckte sie den handschriftlichen Behelfsaushang unterhalb des Spenders:

,Kein desinfektion vorhanden
Lieferschwierigkeiten‘.


Sie dachte daran, dass die beim ersten Lockdown im Frühjahr bei Penny sogar einen Türsteher engagiert hatten, der die leeren Wagen direkt nach dem Zurückstecken desinfizierte. Es hatte sie schwer beeindruckt. Nur Kontakt mit frischen Griffen.

Beim zweiten Lockdown hatten sie wieder einen da stehen. Direkt vor der Schiebetür. Mit Sprüher in der einen und einem gebrauchten Papierlappen in der anderen Hand.

Kam man mit dem ausgelösten Wagen, den eben der Vorgänger in die lange, schiefe Phalanx gitterner Rollkörbe hineingeschoben hatte, musste man sich partout beide Hände bestinken lassen, statt, dass es um die Schiebestange gegangen wäre.

Dafür bekam man jetzt aber auch den ollsten Papierfetzen aufgenötigt zum Abtrocknen.


Sie hatte sich vorgenommen rauszugehen, bevor sie anfing, ihre Serien zu gucken.

War bei Regen zum Briefkasten geeilt und hatte vermieden, sich auf dem Rückweg beim Discounter, etwas Süßes zu holen. Wegen der blöden Ansteckungsgefahr. Alles wegen einer Tafel Schokolade, würde sie bereuen müssen. Zumal sie letztens in der Talkshow nichts Besseres gefunden hatten, als diese grässliche Ecmo zu zeigen. Und wie es ging, jemanden aufzuschneiden, um ihn daran anzuschließen …

Hatte einen Umweg eingeschlagen über die Stichstraße bei der Kleingartenanlage.

Im Schaukasten keinerlei Aushänge zu Vereinsterminen oder -festen, nicht mal zu Bürozeiten. Nur der übliche Werbungsflyer der örtlichen Bäckerei und daneben etwas wie ein Veranstaltungshinweis. Die Stadtschreiberin hatte, statt der üblichen Texte, die eine Lesung erfordert hätten, einen Kurzfilm fertiggestellt. Sie trat näher. Autorin, sowieso, SprecherInnen sowieso, Aufnahmeleitung, Beleuchtung, Schnitt, alles da.

Bis auf Ort und Zeit. Las nochmal. Logo und Kooperationspartner der Stadtbibliothek.

Das war’s.


Sie hatte beim Aufräumen eine alte Zeitung entdeckt.

Eigentlich eine Beilage. Aus dem Südanzeiger. Ihr Stadtteil ganz groß herausgestellt.

Mit den örtlichen Händlerinitiativen. Eine bunte Doppelseite Anzeigen mit Geschäften aus dem ganzen Bezirk.

Vom Röstwerk „Kaffee mit viel Liebe per Hand zubereitet“ bis hin zum russischen Sonntagsbrunch im Katjusha’s, anscheinend „legendär“. Kleine Start-ups wie das Foodwerk „mit den besten Kunden“ neben Traditionsnamen „Wir sind an Ihrer Seite. 30 Jahre Lantengäther“. Dazwischen auch ihre Nagelmodellistin „tolle Farben, neuer Schwung“.

Sie hatte das Blatt aufgehoben wegen der unterschiedlichen Netzwerke. Hörde aktiv, #hoerdehandelt, #chancengleich, Querbeet Hörde – ernte deine Stadt!

Von all den Läden war keiner mehr da. Bis auf den MediaMarkt.

„Bequem online bestellen“.


Im Supermarkt

waren die Packungen der Heidelbeeren alle offen, anscheinend beim Transport aufgegangen, und schon viele der Beeren lagen, verstreut, mehrheitlich zerquetscht, im wild lila-blau eingefärbten Karton.

Sie hatte etliche Packungen getestet, gut wahrscheinlich, dass sie alle in derselben Reihenfolge angefasst hatte wie schon die sämtlichen Heidelbeer-Kunden vor ihr.

Langte nach einem Plastikbeutel, ihre zwei ausgesuchten Schälchen sicher einzupacken.

Und kriegte und kriegte diese blöde Gemüsetüte nicht auf.

Ums Verrecken

musste sie die Maske wegschieben, um die Fingerspitzen anzufeuchten.


Genau eine Minute vor 10 fuhr sie ihren Computer hoch. Hatte viele Aufgaben im
Kopf.

Testenlassen. Diesmal PCR-testenlassen. So ging es nicht weiter mit der laufenden Nase und dem Niesen und … da fiel ihr ein, dass es ja Heuschnupfen sein konnte. Aber in der Wohnung? Sie wollte es sehr genau beobachten, ging ihr der Atem aus?

Sie hatte ihr Testament gemacht, hatte alle Glückssehnsuchtsschulden eingelöst, war
frei.

Interpretationsvariante zum Primärtext ‚Genau eine Minute‘

Original dieses Primärtextes als PDF

Ein berührender Text, weil er an die Essenz der Existenz geht, gekonnt in höchster kurzer Prägnanz.

Schon aus dem Schriftbild wird die positive Botschaft deutlich, eine Entwicklung – auf vielen Ebenen, so, wie sich die Zeilen insgesamt mehr Raum am rechten Seitenrand erobern – auf den Punkt gebracht durch die überaus präzise gesetzten Zeilenüber-gänge und -hänge – Kopf frei bzw. Kopf frei über einen Dreischritt: Zunächst die Analyse und Diagnose der Not, „Testenlassen“, das ein Testenlassenmüssen ist. Dann der Dreh- und Angelpunkt Nase. Sie kann Sitz der Not sein, im äußeren Sinne, aber auch Zugang zu innerlich tiefster Quelle, Ganzheit und Heilung sein. Man denke nur daran, wie oft Kopf und Nase im Gegensatz stehen, wenn ich eine Beziehung zu einem Mann anstrebe mit Karriere, Konto, Karosse, wobei klar ist, sie wird nur gut gehen, wenn ich ihn gut riechen kann. Oder man denke an das sog. Riechhirn, das heute sog. limbische System im Gehirn, jene alten Regionen unseres komplexen nicht nur lebensnahen, sondern lebensidentischen Intelligenzorgans, die, in einer klassischen Dreigliederung von archaischem Hirnstamm über eben das Zwischenhirn zum jungen Neocortex, eine Scharnierstellung einnehmen zwischen den kopfigen und den emotionalen, meist emotional noch unbewussten, Seiten unserer selbst. Die danach folgende zwar adversative, aber doch Konjunktion „aber“ macht genau diese Schleifen des Hin- und Her eines Zwei-fels aus. Dilemma der Protagonistin ist ja weniger das Außenweltliche, ob Covid oder Heuschnupfen, zu Ende gedacht Tod oder Leben, denn ihr erst vorbewusstes, aber doch entscheidendes inner-weltliches Dilemma: Worauf will sie setzen, ihre Gedanken oder ihr Gefühl, wem will sie den Vorrang eingeräumt haben am Ende? Dass es hier um ein Ich geht, die menschliche Mitte, die als einzige in der Lage ist, in Gegensätzen die bloß noch nicht zusammen-geführten Hälften eines höheren Ganzen zu sehen, wird hier durch das weibliche Personalpronomen „sie“ ausgedrückt. Diese pivotale Instanz in uns allen ist jenes Zentrale, demgemäß wir unter unserer unbewussten Kopflast gebeugt in unserem Leben herumlaufen oder ob wir uns aufrichten: Wenn wir etwas genauer riechen wollen, haben wir unseren Kopf, übrigens ganz mühelos, auch schon angehoben.

Im Kern geht es in diesem Text um eine Protagonistin, die eigenachtsam, sich ihrer selbst sehr bewusst, zumindest aber selbstbewusstseinswillig und selbstreflexiv, die Kompetenz an den Tag legt, sich aus eigener innerlichen Kraft herauszuheben aus einer unerwünschten, einschränkenden Befindlichkeit.

Der Text zeigt exemplarisch auf, wie es gehen kann, sich selbst von den eigenen Dämonen erfolgreich zu erlösen, um frei weiterleben zu können, nicht im Paradies, nicht nach dem Tod, sondern hienieden in einem Himmelreich auf Erden.

Der Text hält auch einer strengen Detailinterpretation stand, schon mit dem Wort „genau“ anfangend.

Die Autorin formuliert nicht vage, dass die Hauptfigur um 10 Uhr am Computer saß, sondern, dass sie ihn, daran sitzend, hochfuhr und das nicht punkt 10 Uhr, sondern, sogar noch bestimmter, exakt eine Minute davor und man ahnt, dass sie um ganz genau 10 Uhr am Computer zu arbeiten anfängt, wobei die eins als Startzahl korrekt mit dem Anfangen des eigenen Tätigseins, im Gegensatz zu der des Computers, korreliert und nicht gebrochen wird etwa durch 11 oder 12 Uhr, einem Mono- bzw. Duodezimalsystem, das 10er-Dezimalbasis-System bestätigend, die eins verstärkt um den Faktor 10.

Der Monoklarheit im Kontext der künstlichen Intelligenz und der maximal fokussiert eindeutigen Stringenz des äußeren Handelns stehen das Chaos, die übermächtig drängend-drückende Fülle der natürlichen Intelligenz, von der Hauptakteurin als Hatz statt Handlungskonsequenz erlebt, gegenüber. Folgerichtig kommt sie nicht dazu, die „Aufgaben“ anzugehen oder gar zu erledigen, bleibt, stressblockiert, schon bei dem einen Gedanken des Testens stecken, hat sich unter Eile und Druck vergessen.

Das liegt daran, dass sie sich als Ich-Zentrum ihrer Lebensgesamtheit längst verloren hat, unzweifelhaft belegt durch das komplette Fehlen eines Satzgegenstandes. Die Protagonistin wird nicht einmal durch ein Pronomen ersetzt, geschweige denn an dieser Stelle durch einen Namen eingeführt und es ist leicht einsehbar, dass sie nicht so sehr von der Vielzahl ihrer To-dos überwältigt ist, sondern eher von der Tatsache, dass ihre Gedanken an die bevorstehenden Pflichten wie ein Knäuel daherkommen oder, schlimmer noch, schon als regelrechter Knoten im Kopf, der sie abschnürt.

Der zweite Satz evoziert geschickt diesen Status des Koloniertseins durch die vielen knechtend antreibenden Ansprüche, was alles unbedingt zu erledigen sei, damit es seine Richtigkeit habe in einem fremdbestimmten mehrheitsmeinungskonformen Sinne, wenn sich der selbstentfremdete Ermahner im Vorderkopf bereits mit seinem zurichtenden Imperativ ‚Aufgaben!‘, ‚zahlreiche!!‘ gegen ein noch steuerungsfähiges Ich durchgesetzt hat und sich die unwillkürliche Kaskade von wenig weiterführenden automatischen Assoziationen in Gang setzt à la ‚weiß gar nicht, wo ich anfangen soll‘, ‚aber bloß nichts vergessen‘ und ähnlicher Selbstkujonierungen mehr.

Dass die Heldin in ihrer Verstrickung untergegangen ist, wird durch die dezidierte Zwanghaftigkeit im ersten Satz untermauert, was dem weit verbreiteten Phänomen entnommen ist, dass Perfektion häufig ein anwesendes intaktes Ich simulieren soll. Solcher Pseudohalt, der an Äußerlichkeiten hängt, kann jedoch einen veritablen Halt in sich selbst nie ersetzen, denn das Äußere wächst nach, kaum hab ich die Küche geputzt, geht’s mit dem Kochen schon wieder los und wer darauf bezogen bleibt, erschafft sich damit nur den Anfang jener Abwärtsspirale eines Hamsterrades, bei dem man nie an ein Ende, sehr wohl aber tiefer und tiefer in ein sinnentbehrendes Ausgebranntsein kommen kann.

Dieser alles herunterziehende Strudel wird im nächsten Absatz plastisch illustriert. Der auf nur einen Gedanken verengte Blick wird noch enger und die Zuspitzung anankastischen Verhaltens dramatischer. Entsprechend steigern sich zwangsläufig wenig günstige Affekte. War vorher schon Panik da, dem Erledigthabenmüssen des Aufgabenpaketes alles schuldig geblieben zu sein, kommen hilflose Wut, wütende Klage und das diesem Mechanismus immanente Steigerungspotenzial noch hinzu.

In der Wort- bzw. Satzwahl im Text wird deutlich, dass die Protagonistin nicht mehr vorkommt, nur noch das Müssen ist präsent und zwar in kurzen, befehlsartigen Ein- bzw. Zweiwortsätzen, wobei eine minimalistische Wortwahl genügt, das Leid sehr augenfällig aufscheinen zu lassen. „Testenlassen“ und zwar „diesmal“ bitte richtig! Auch das deutet darauf hin, dass der Hauptfigur serielles Scheitern wohlbekannt ist. Die Abgrundspirale lässt grüßen. Typisches Symptom dabei ist eine stetig krasser ausfallende Verhärtung, statt im harmonischen Mit-Fließenkönnen mit den äußeren Notwendigkeiten zu sein.

Der Text drückt das Drama des Zerrissen- und Fremdbeherrschtseins des Ichs der Heldin explizit aus: „ging […] nicht weiter“, nämlich betreffend den Absichtswillen der Zwangsneurotikerin einerseits und andererseits „laufend[en]“ den höheren Willen ihres Selbst betreffend. Die Nase, Symbol unbewusster Gefühlslagen, hier in ihrer Eigenläufigkeit durch das Niesen als noch stärkeres Symbol unwillkürlicher Prozesse verstärkt, wird zum Kristallisationspunkt des Eigentlichen, der Peripetie.

Die vorausgehende dramatische Steigerung wird durch ein doppelt gegenläufiges Dreierkonstrukt rhetorisch stimmig umgesetzt: Dem direkten Weg in die Sackgasse des niederen künstlichen Absichtswillens des Geistes im Sinne von bloßem Intellekt „Testenlassen“, „PCR-testenlassen“, „so ging es nicht weiter“ wird ein höherer, weit mächtigerer, absolut elementarer, geradezu vegetativer, Naturwille entgegengestellt, der Willen eines höherrangigen Geistes nicht nur im Sinne von Intuition, Inspiration, Illumination, sondern auch im Sinne jenes Geistes, der die Quelle all dessen selbst ist, Zugang zum Eigentlichen und gleichzeitig das Eigentliche selbst „Nase“, „und […] Niesen“, „und …“ – auf der Spitze dieses gelungenen Spannungsbogens ist man gezwungen, ergänzen zu wollen ‚das Wunder, das Numinose, das unaussprechliche aber umso wunderwirksamere Geheimnis selbst‘.

Das Transpersonale bricht, im Text als Ellipse wiedergegeben, plötzlich autonom in die personale Welt der Heldin ein, ein erster wichtiger Punkt, an dem es umschlägt, sich das aufgebaute Leid mit einem Schlag in mögliche pure Harmlosigkeit entlädt, „Heuschnupfen“. Der rettende Einfall aus einer anderen Dimension. Nicht fassbar, nicht reproduzierbar, aber auf allen Ebenen spürbar.

Aber der rastlose Intellekt rätselt weiter. Will das von ihm prinzipiell nicht Erfassbare erklärt, begriffen und unter die eigene Kontrolle gebracht wissen. Dem entspricht spiegelbildlich der höher geschulte Geist, dem unerklärliche Phänomene sehr wohl einzuleuchten vermögen. Die Rede ist hier von dem im Text wortwörtlich erwähnten Beobachter, dem gemitteten inneren Zeugen des sich entfaltenden Lebens, der nicht willenlos und nicht beliebig, sondern individuell und sehr wohl unparteiisch ist.

In den beiden Fragesätzen, die treffend versinnbildlichen, dass Verhärtungen wie Blockaden aufgebrochen sind und alles erfolgreich in Bewegung gekommen ist, wird deutlich, dass alles in der Schwebe ist, ein Schwingen und Pulsieren, nie festgelegt, ohne gleichzeitig auch freigelassen zu sein und nie Fragmente, ohne zugleich auch ein kohärentes Ganzes.

Hier werden wieder semantischen Felder einander gegenübergestellt, aber sie sind nicht mehr hermetische Einseitigkeiten ohne Verbindung, sondern an den Rändern offen, wie ein zirkuläres Kontinuum, Wissen und Weisheit, „Wohnung“ und „Atem“, Innen und Außen, Beobachter und Beobachtetes greifen ineinandergreifen, um eins werden zu können. Das, was man der Protagonistin wünscht, eine Persönlichkeit aus einem Guss, ohne Opfer eines Lebens in eigener Spaltung und hausgemachtem Dualitätsleid.

Eine Frau, fähig, der prinzipiellen Paradoxie des Lebendigen mächtig zu sein, was auch in den beiden Interrogativsätzen angesprochen wird, wenn die Wohnung, also das Außen mit der Präposition „in“ verknüpft ist und der Atem, das Innerste mit der gegenteiligen, nämlich „aus“. Im frei Relationalen der Frage, im Unterschied zum Positionalen einer Antwort, ist Ineinsfließen und eine höhere Synthese möglich.

Beispielhaft anhand des Wortpaares Wissen versus Weisheit dargestellt, geht es darum, nicht nur jene Geistespotenziale für sich zu mobilisieren, die der bewussten Verarbeitung von Informationen im Gehirn, etwa 3 %, entsprechen, sondern auch den 97 %, die unbewusst verarbeitet werden, holistisch, und weit bessere Lösungen liefern, da hier eine Leitung zur unendlichen Kreativität selbst gelegt ist.

Die beiden vorletzten Sätze des Textes bilden den kleinen bewussten Intellekt und den viel weitreichenderen Geist, der den ganzen Rest ausmacht in ihrer Kürze bzw. Länge, Vereinzelung bzw. Verbundenheit einprägsam ab, wobei, fraktalartig, auch kleinere Bedeutungseinheiten in sich wiederum transparent machen, worum es geht: zwei in eins. Wie wir willentlichen Intellekt und unwillkürliche Einfälle, Ideenblitze, Erleuchtungsgnaden stets als Beides zusammen brauchen, erklärt die reifende Frau „sehr genau“ und zwar „beobachten“ zu wollen, ohne Lücke dazwischen, also der fokussierte Scheinwerfer der Kognition ebenso und zeitgleich zu sein wie das breite Streulicht des Bewusstseins selbst.

Der Abschluss des Textes ist gelingender Kreislauf des Lebens pur. Nicht nur ist die Textheldin endlich ins Handeln gekommen, sondern hat die ihre beiden wichtigsten Handlungen bereits vollzogen, der Außenwelt geschuldet ihr Testament fertiggestellt und ihr Sehnsuchtsglück, ihrem Inneren schenkend, in Gänze erlangt.

Sie hat von uneigenen Abwegen auf ihren Pfad gewechselt auf dem es jetzt in guter Eintracht mit sich selbst weitergeht. Der Text baut hier wiederum mit den Mitteln des Dreiklangs eine Spannungskurve auf, Testament fertig, Schulden beglichen, was wird sie machen als freie Persönlichkeit? Sie hat es ganz in der eigenen Hand. Sie hat alle Möglichkeiten. Sie beherrscht die Grammatik der materiellen Welt und kennt die Weise weiterführender geistiger Dimensionen, die begrenzte Welt und die der unerschöpflichen Möglichkeiten und kann sich in beiden und dazwischen bewegen.

Alles ist drin, alles ist richtig, solange es ihr ureigenes ist, getreues Abbild ihres Wesens, quasi verwirklichte Eigenentelechie. Sie hat eine Lösung gefunden, aber anders als gedacht, eine viel größere Lösung als vorstellbar war, ist ihr zugestoßen. Alles, weil es dem Licht beliebt hatte, ihr aufzugehen und sie ihrerseits prinzipiell empfänglich und kooperativ war.

Insgesamt ein induktiv instruktiver Text, der zum Thema hat, das Mysterium von Wunderlösungen anschaulich, erfahrbar und wirklich werden zu lassen. Am Ende schließt sich der Kreis und eine neue Runde kann beginnen. Aber in der Rückschau wird klar, die Frau, die ihren Computer unter hohem Aufgabendruck hochfährt ist nicht allein. Sie mag einen Sack voll Aufgaben haben, aber sie ist nicht dieser Sack. Sie mag ein Problem haben, aber sie ist nicht ihr Problem, sie ist bei all dem nicht absorbiert. Es ist jemand da, der um sie und all das weiß. Der unbeirrte Beobachter. Der sie sieht, für den diese Frau die „sie“ ist. Die Beobachterin ist sich ihrer bewusst.

Ja, ich mag sterben, übrigens, wie ausnahmslos jeder Erdenmensch, ja, mir mag das Schlimmstvorstellbare passieren, angesichts dessen ich machtlos bin und ja, ich bin mir bewusst, das muss mich, diese Beobachterin der Lebenden wie Sterbenden, mitnichten beeinträchtigen, mein Glück ist anderer Natur.

Die Autorin des Textes drückt diesen Umstand durch die Verwendung der indirekten Rede aus, die dadurch charakterisiert ist, dass wir uns sehr leicht hineinversetzen können in eine Hauptfigur und unsere Heldenreise mit ihr bestehen können, ohne allwissend sein zu müssen dafür, auktorial distanziert, andererseits aber auch nicht so undistanziert auf Gedeih und Verderb sie selbst sein müssen, wie in der Variante des inneren Monologs als personale Erzählweise in der er ersten Person im Singular.

Die Heldin hat durchgehend, was jederzeit im Text merklich ist, eine Freundin zur Seite, die Autorin. Keine Textheldin kann so tief fallen, dass sie nicht immer in der Hand ihrer Erfinderin landete, so wie in einem noch so düsteren Film, die Hauptrolle nicht alles ist und der Regisseur für sie da ist in ausnahmslos allen Fällen. Es ist die Lehre, dass dafür ein Film nicht gut ausgehen muss, da der Regisseur in einem Film nie sterben, nie leiden und auch nicht glücklich sein kann. Wohl aber ist freiwilliges Mit-leiden, bei gleichzeitiger völliger Unversehrbarkeit, jederzeit möglich.

Es bleibt die Schlussfolgerung, dass Glück wie Leid als Hauptfigur nicht alles ist und wir alle auch Regisseure all dessen sind, was uns zustößt und es uns freisteht, unser Glück auf die Rolle oder den Regisseur, Dirigenten, Intendanten zu bauen, auf das Bewusstsein selbst, nicht auf gute wie böse, leichte wie schwere oder sonstige bloße Bewusstseinsinhalte, bloß das Geschaute, sondern die Qualität des Schauens des Schauenden selbst.

Es geht darum, durch das Rezipieren des Textes ein Eigenbewusstsein von sich selbst in Gang bringen zu lernen, damit viel mehr Eigengestaltung möglich ist und viel zahlreichere Lösungen, nicht nur die den aktuell eigenen Vorstellungsgrenzen unterworfenen. Es liegt an mir, was in der Folge geschieht, wie die Geschichte weiter geht, was ab heute der wirklichen Protagonistin geschieht. Glaube ich, dass die Frau am Ende des Textes frei ist zu sterben oder zu leben? Ist mir klar, was es über mich jetzt und hier aussagt? Weiß ich, dass ich mein Glaube bin? Wer bin ich? Und: Wer will ich sein?

Wer will ich, in diesem Leben noch, schaffen zu sein? Mitsamt den Voraussetzungen, die ich nicht beeinflussen kann, mitsamt dem Alltag, den ich lernen kann, zunehmend zu beeinflussen. Trotz der Kontingenz der Gegebenheiten. Jederzeit. Wer? In diesem Moment. Der mir gehören kann. Wenn ich ihn verstehe, wenn ich ihn verstehen will, mit ihm zusammenarbeiten will. Mit diesem Willen des Moments. Als meinem eigenen. Nunmehr höheren.

Willen.

(Die Texte gehören zum umfangreichen Corona-Zyklus I. Teil II ist aktuell in Arbeit.)