Family

Dass er seinen eigenen Sohn nicht liebte!

Der so sehr darunter litt, dass er noch keine Frau hatte, Drogen nahm und ganz offensichtlich dabei war abzurutschen.

Machte keinerlei Anstalten, ihn beachten zu wollen, gar anzusprechen, überhaupt wahrzunehmen in seinem stumm servilen traurigen Dasein.

Das ganze System funktionierte. Ohne die geringste Reibung. Schon seit dem Tod. Der ersten Frau. Ihrer Vorgängerin.

Weswegen er alles so belassen hatte. Sie schliefen im alten Ehebett und der Sohn glich alle Streitigkeiten aus.

Nach wie vor.

Er war dieses beinhart Konservative. Unflexible. Festgelegte. Eine Frau hat loyal zu sein.

Es war nicht der erste Fall, den sie kannte, wo die Frau keine Möglichkeit hatte zu gehen, außer wegzusterben.

Mit ihr aber hatte er sich leider seinen absoluten Schatten eingekauft. Sie hatte von Regeln noch nie etwas gehalten.

Dabei wollte sie diesmal die Rebellin echt an die Kette legen und es nicht wieder mal vermasseln, sie ging schließlich schon auf die Vierzig zu.

Auch wenn er die Kälte in Person war, die Ablehnung, Feindseligkeit, Herrschsucht und unvorstellbarste Sturköpfigkeit in einem.

Sie vermochte leicht, sich für zwei zu lieben.

Aber seine Vorschriften. In Punkto Partnerschaft. Beziehung konnte man eher nicht sagen. Vom Gediegensten. Da war die gesellschaftliche Klammer, die wirtschaftliche Klammer, die finanzielle Klammer, die religiöse Klammer, die juristische Klammer … die soziale, emotionale, familiäre oder zu seinem Sohn die biologische Klammer – konnte man auch nicht sagen.

Dabei hatte sie sich ausdrücklich zu Solidität in jeder Hinsicht verpflichtet. Was sie sonst auch empfindliche Einbußen gekostet hätte. Keine libidinösen Eskapaden mehr mit schier allem, was ihren Weg kreuzte, Mann, Frau, blond oder braun, alt oder jung und auch keinerlei amourösen Verstrickungen mit dem Sohn. Woran sie sich sämtlich gehalten hatte, hatte sie doch schon alles.

Eine der 1000 Traditionen waren die Spieleabende im Advent. Bei der Schwester. Mit der sie zusammengerasselt war. Ob der Frage, ob nun zwei oder vier Joker. Sie verfocht die weichere Auslegung der Richtlinie, die Schwester die strengere.

Er hielt sich raus. Mit Verweis auf Paris. Nur ein dummer Hirtenjunge konnte sich darauf einlassen, zwischen zankenden Weibern schlichten zu wollen. Schon Zeus selbst hätte es gewusst, den Job bloß nicht annehmen! You can’t win. Stimmte.

Sie war aufgesprungen, bereit zu gehen. Er blieb sitzen. Seine Schwester bedrängte ihn aufs Heftigste: „Nun sach doch was!“ Er schwieg beharrlich weiter.

Sie war zu Fuß nach Hause gelaufen.

Es kam Weihnachten. Sie verreiste. Zu ihrer einsamen alten Mutter. Wer weiß, vielleicht das letzte Fest. Es kam Silvester. Sie ließ sich immer noch nicht wieder einladen. Die Mutter, leider, ganz plötzlich. Man konnte nicht wissen.

Es kam Ostern. Sie wollte eigentlich einlenken. Um dieses unschuldigen autistischen Nachbarsjungen willen, den sie miteingeladen hatte zum großen Eiersuchen im Park.

Da entglitt ihr der ganze Einkauf und sie musste sich nochmal in die Schlange stellen und war schon intolerabel spät dran und wollte eben aus dem Auto steigen, als es sie hochriss und emportrug über die ganze Szenerie hinweg und sie erschaute das weite Land und die geliebte Stadt am Hafen und auch eine lange Geschichte von Wunden der Liebe und der Abkehr von jedem warmen Gefühl. Und sie schaute auch eine Ehe, die zerbrach.

Das Paketband war gerissen, das Paket auseinandergefallen und namhafte Teile davon fielen hinab ins Brackwasser.

 

(Der Text gehört zur jährlichen Online-Publikationsreihe in Kooperation mit der Schreibveste, wo ab August 2021 monatlich ein neuer Textbeitrag zu finden ist.)